Gebrochenes Glas
(fast ein Weihnachtskrimi) Von Uwe Teich
1. Szene
Eine Scheibe klirrt. Josef mit Taschenlampe tritt suchend in den Raum. Von der anderen Seite her kommt Werner herein. Beide prallen aufeinander und weichen voreinander zurück. Gehetzt stehen sie einander gegenüber.
Josef
Wo kommst du her?
Werner
Ich kam durch die Tür.
Josef
Äh, durch die Tür?
Werner
Ja sicher. Ich hörte die Scheibe splittern.
Josef
Wenn ich gewusst hätte, dass die Tür offen ist, dann… Ich wollte keinen Lärm machen.
Werner
Wie bitte?
Josef
Es ist nicht meine Art, etwas kaputt zu machen.
Werner
So, so.
Josef
Ist nur eine kleine Scheibe zu Bruch gegangen. Das Innenfenster war angelehnt. Der Schaden ist klein. Ich werde es nachher in Ordnung bringen.
Werner
Sehr rücksichtsvoll.
Josef
Wozu großen Schaden machen.
Werner
Ja, richtig, wozu großen Schaden anrichten.
Josef
Gehen wir?
Werner
Wohin?
Josef
Auf die Suche nach Barem, Verkaufbarem, Brauchbarem. Deswegen bist du doch hier, oder?
Werner
Ich bin mir nicht sicher. Was, wenn die Leute kommen?
Josef
Die sind im Urlaub. (Beginnt, in Schiebern der Kommode zu suchen)
Werner
Im Urlaub?! Ach so. Na dann. Woher wissen Sie, dass die Leute im Urlaub sind?
Josef
Kannst du‘ zu mir sagen. Oder Josef, ganz einfach Josef. Aus der Post weiß ich es.
Werner
Aus der Post?
Josef
Die Buchung kam am 30. November ins Haus. Weg aus der Kälte in den warmen Süden. Denen geht es gut, was? Die können sich das leisten. Unsereiner hat keine Bleibe und die können ihr Haus beheizt stehen lassen.
Werner
Wieso kennen Sie die Post der Leute?
Josef
Ich heiße Josef. Sag du‘ zu mir. Wir suchen ja schließlich beide irgendwas im Haus.
Werner
Werner. Post. Nein, ich meine ich heiße Werner. Wie war das nun mit der Post?
Josef
Ich habe gelunst. Darf man eigentlich nicht. Aber der Umschlag war offen und der Brief fiel raus. Habe es gelesen, so beim Aufheben: Sehr geehrter Herr Sakul, wir freuen uns, ihnen mitteilen zu können, dass ihre Reservierung im Viersterne Hotel „Ratakira“ gebucht werden konnte. Bitte überprüfen Sie die Angaben. Anreise am 22, Dezember. Abreise am 3. Januar des Folgejahres. Mit freundlichen Grüßen bla bla bla. Hab’s gelesen und ohne Hintergedanken wieder rein gesteckt.
Werner
Verblüffend.
Josef
Was verblüfft dich?
Werner
Wie Sie, äh, du an den Brief gekommen bist.
Susann
Werner, kommst du?
Josef
Was war das?
Werner
Nichts.
Josef
Da hat jemand gerufen.
Werner
Quatsch. Erzähl weiter von dem Brief.
Josef
Aber jemand hat deinen Namen gerufen.
Werner
(Hält einen Leuchter in der Hand) Hier, vielleicht läßt sich damit gutes Geld machen.
Josef
Plunder. Was die Leute sich alles für Plunder in ihre Wohnungen holen. Zur Zeit ist das ein irrsinniger Wahnsinn. Ich brauche nur etwas Geld zum Leben. Hab bald zwei Mäuler zu stopfen. Meine Frau ist schwanger. Heute oder morgen hat sie Termin. Wir müssen irgendwo unterkommen.
Werner
Geld ist dort oben links in der Schublade.
Josef
Warum hast du es liegengelassen? Bist schon länger hier drin.
Werner
Eine ganze Weile. Kann man so sagen.
Josef
(Hat Geldscheine in der Hand und bietet sie Werner an) Vier Braune, ein Blauer und zwei Rote. Hier, die Hälfte ist für dich.
Werner
Nein, nein danke. Bediene dich nur.
Josef
Bist du verrückt? Jeder die Hälfte. Los, steck es ein!
Werner
Lass sein.
Josef
Wozu bist du sonst hier? Nimm endlich!
Werner
Wenn du darauf bestehst.
Josef
(Werner hantiert am Telefon) Was machst du da am Telefon?
Werner
Ich stehe zufällig hier. Aber wenn es dich stört.
Josef
Wo ist der Anschluß?
Werner
Draußen im Flur, glaube ich.
Josef
Bin gleich wieder da. (läuft in den Flur, zieht das Telefon ab.)
Werner
(am Telefon) Hallo, hören Sie, wir haben im Haus… Mist. Tot.
Josef
Hab die Schnur heraus gezogen. Sind wir ungestörter, von wegen telefonischer Überwachung und so. Sieht man doch in Filmen, wie es gemacht wird.
Werner
Der Strom ist abgeschaltet.
Josef
Um so besser. Kluger Kerl, hast die Sicherung raus gedreht. Aber Telefon hat eigenen Strom. Jetzt dürfte nichts mehr passieren. Es sei denn, es hat irgendwo bereits geklingelt. Aber dann ist egal alles zu spät.
Werner
Wie war das mit dem Brief?
Josef
(sucht weiter in den Schränken und erzählt dabei) Am letzten Arbeitstag war das. Trotz des anstehenden Weihnachtsansturms wurde ich wegen „betriebsnotwendiger Einsparungen“ entlassen.
Werner
Du warst bei der Post?
Josef
Postbote. Gelernt habe ich Zimmermann. Aber wer macht heute schon noch das, was er einmal gelernt hat. Guck mal, die haben einen ganzen Schrank voller Fotos. Kann man sein Leben in ein paar schlechte Bilder fassen. Hier sind wir sogar richtig. Mutti am Weihnachtsbaum. Die lieben Kinder packen ihre Geschenke aus. Mein Gott, sind das Berge. Heute kriegen die alle den Hals nicht voll genug. Man hört keine Glocken und auch keine Musik. Kalte Bilder.
Werner
Leg sie weg, wenn es dich stört. Erzähl lieber weiter.
Josef
Der Postbote war ein Gelegenheitsjob. Wollte mich zwar verändern. Aber das wachsende Kind zwang mich, an Zukünftiges zu denken. (hat Schecks gefunden, zeigt sie Werner) Nimmst du Schecks?
Werner
Zu riskant.
Josef
Ich mache das hier das erste Mal. Ich meine, ich bin das erste Mal in ein fremdes Haus eingestiegen. Mir zittern noch immer ein bißchen die Knie. Und als du vor mir standest, da dachte ich: jetzt ist alles aus.
Susann
Werner, wo steckst du?
Josef
Da, eine Frau hat dich gerufen. Du hast mich belogen. (geht erregt auf Werner zu).
Werner
Beruhige dich. 0. K.? Ich will ehrlich sein. Ich mache das hier auch das erste Mal. Da habe ich meine Frau mitgenommen. Sie sucht oben. (zu Susann) Suse, ich komme gleich. Ich habe eine Überraschung vor.
Josef
(Hält Werner die Hand vor den Mund.)Bist du verrückt. Hör auf zu schreien.
Werner
Hier hört uns keiner.
Susann
Was soll ich denn suchen?
Werner
Die Überraschung. Du sollst einfach weitersuchen.
Susann
Wo denn?
Werner
In den Schränken.
Susann
Da habe ich schon längst…
Werner
Hör auf, ich komme gleich.
Josef
Sei still, sage ich.
Werner
Die Leute sind im Urlaub auf einer Insel, wie du sagst. Wer sollte uns hören? Selbst, wenn uns jemand hört: es könnte der Fernseher sein, der nach der Schaltuhr angeht. Überall laufen um diese Zeit die Fernseher. Das Abendbrot und die Bescherung sind vorbei. Man sieht fern. Mit irgend etwas müssen sie sich ja in Stimmung bringen. Ein Tag wie jeder andere. Nur äußerlich ist es ein furchtbar bunter.
Josef
Für mich nicht.
Werner
Für mich auch nicht.
Josef
Wie hast du erfahren, dass die verreist sind?
Werner
Ich habe sie wegfahren sehen.
Josef
Ja, klar… suchen wir weiter. (sucht weiter in den Fächern der Kommode).
Werner
Dort liegen nur wertlose Papiere. Briefmarken sind zu holen. Schubfach ganz unten. Kannst du vielleicht verkaufen.
Josef
Briefmarken? (hält Briefmarkenalbum in der Hand) Das ist gut. Einem ehemaligen Postboten stehen Briefmarken gut an. Willst du? Sind sehr schöne vollständige Sätze dabei
Werner
Habe wenig Ahnung, was hier wieviel wert ist. Machen wir Halbe Halbe. Wir können das Album in der Mitte durchreißen.
Josef
Bist du wahnsinnig! Gib her!
Susann
Werner, ich finde nichts.
Werner
Such weiter, Liebes.
Susann
Mit wem redest du?
Werner
Mit niemandem. Ich singe.
Susann
Öl deine Stimme.
Werner
Ich fresse lieber Kreide
Susann
Alberner Kerl.
Werner
Na, na, na ich komme gleich hoch.
Josef
Was soll das? Willst du dich hier einnisten?
Werner
Warum nicht? Kein schlechter Gedanke. Die Leute sind im Urlaub auf einer Insel und wir nisten uns einfach ein.
Josef
Wir nisten uns einfach ein. Das ist gut. Mann. Das ist gut. Hast du etwas dagegen, wenn ich und meine Frau für eine Weile mit ins Haus kommen?
Werner
Nun reicht es aber. Erst unaufgefordert eintreten und dann gleich einziehen wollen.
Josef
Was regst du dich so auf? Platz ist hier für zwei Familien. Meine Frau und ich sind vor drei Monaten aus der Wohnung geflogen. Das Haus war lange verkauft. Erst haben sie uns den Strom abgestellt, dann das Wasser. Der alte Besitzer bedauerte. Das Amt hafte nichts für uns. Als ich auf den Bauch meiner Frau zeigte, zuckten sie die Achseln. Wir wären nicht die einzigen. Was will ich mit meiner schwangeren Frau in einem Obdachlosenasyl unter stinkenden und besoffenen Männern. Wir wollten uns allein durchbringen – im Zelt. Anfangs ging es ganz gut. Aber die Kälte frisst uns auf. Ein paar warme Tage täten gut, jetzt, wo das Kind kommen soll. Dieses Geld hier reicht ein paar Tage weiter. Dann werden wir sehen.
Werner
Warum muss ich mir das anhören?
Josef
Was weiß ich?
Werner
Bist du von hier?
Josef
Ich bin von hier und anderswo.
Werner
Ist mir zu hoch. Wo ist deine Frau?
Josef
Steht draußen Schmiere.
Werner
In der Saukälte. Ich denke sie ist hochschwanger.
Josef
Sie hat Angst um mich.
Werner
Obwohl du weißt, dass die Leute nicht im Haus sind…
Josef
Soll ich sie holen?
Werner
Natürlich. Aber ich muss dir vorher etwas sagen.
Josef
Später. Ich hole sie schnell.
Werner
Wohin gehst du?
Josef
Zum Fenster.
Werner
Da ist die Tür. Oder willst du das Fenster deiner Frau zumuten?
Josef
Du hast recht. Daran habe ich gar nicht gedacht. (Josef ab Richtung Tür)
Lied: O Bethlehem, du kleine Stadt EG 55,1
2. Szene
Susann
(Susann und Werner stehen allein im Raum) Bist du verrückt geworden? Du willst dich mit diesem Einbrecher an einen Tisch setzen? Ohne mich. Wer weiß, was der im Schilde führt. Solche Leute sind unberechenbar. Versuche sie auf irgendeine Weise schnell loszuwerden. Vielleicht finden wir etwas, was sie zufrieden stellt.
Werner
Susann, in wenigen Augenblicken ist der mit seiner hochschwangeren Frau hier. Er glaubt, wir suchen das Gleiche wie er. Er hält uns für Einbrecher.
Susann
Sind wir aber nicht. Wir wollten uns lediglich ein paar besondere Tage gönnen. Kaum sind wir allein, bricht irgendwer ins Haus ein.
Werner
So einer ist keine Gefahr. Dem zittern die Knie. Der tut keinem was zuleide. Ich finde es witzig. Lass mir das Spiel.
Susann
Woher willst du wissen wie der reagiert. Das ist kein Spiel, Werner. Das Geld! Die Marken!
Werner
Der ist harmlos. Alles wollte er mit mir teilen. Jedem die gleiche Hälfte. Beinahe hätte er mein Album zerrissen, um mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Susann
Bist du übergeschnappt?
Werner
Ich suche wie du das Besondere in diesen Tagen. Vielleicht ist es das.
Susann
Aber das ist ein Einbrecher.
Werner
Ein verzweifelter armer Schlucker ist das. Gib mir die Chance. Bitte, spiele mit. Du wolltest ein besonderes Weihnachten. Jetzt bekommst du es.
Susann
Ich weiß nicht, ob ich das kann.
Werner
Bitte. Wir haben keine Zeit, uns zu entscheiden.
Susann
Was muss ich tun?
Werner
Das merkst du schnell genug. Sei einfach du selbst und hab keine Angst, Wenn alles aufliegt, dann ist das für den Mann schlimmer, als wenn wir die Geschichte ein bisschen zu seinen Gunsten steuern. Probieren wir das Ungewöhnliche zu einer Zeit, die immer gewöhnlicher wird.
Susann
Du wirst philosophisch.
Werner
Mag sein. Es muss irgendwann einen außergewöhnlichen Tag gegeben haben. Dieser Tag war ebenso ungewöhnlich wie beeindruckend. Deswegen machen die Leute jedes Jahr diesen Rummel. Sehnsucht, wundersame Düfte, Herzschmerz, Hoffnung auf Veränderung und so weiter. Die Seele will irgendeinen Neubeginn. Am Ende steht oft die große Enttäuschung. Wir wollten es diesmal anders machen, um die Enttäuschung zu vermeiden. Ist dieser Josef vielleicht deshalb in unser Haus eingebrochen?
Susann
Willst du das Besondere bei einem Einbrecher finden?
Werner
Die erste Besonderheit besteht darin, dass seine hochschwangere Frau Schmiere steht. Sie hat Angst um ihn. Ich will wissen, was weiter geschieht.
3. Szene
Josef
(Josef kommt mit Maria) Hallo, wo steckst du?
Werner
Hier oben gibt es einige nette Sachen.
Josef
Da sind wir. Ich habe die Tür wieder von innen verriegelt.
Werner
Das ist Susann, meine Frau. Susann, das ist Josef.
Susann
Josef? Ihr Name passt zu diesem Abend mit seiner alten Geschichte. Es ist fast wie im Märchen.
Josef
Bauch und Name meiner Maria passen noch besser. Aber Geschichten sind Geschichten und wir sind ganz lebendige Menschen. Also, das hier ist Maria.
Susann
Maria, um Himmelswillen, Sie müssen sofort in eine Klinik.
Maria
Machen Sie sich um mich keine Sorgen.
Susann
Aber um das Kind. Sie sind ja eisig.
Maria
Es sind nur die Hände. Der Bauch ist warm.
Susann
Kann schon sein. Aber Sie müssen ihr Kind unter ärztlicher Aufsicht zur Welt bringen.
Maria
Ich brauche kein Krankenhaus. Niemand kann mich zwingen. In meiner Familie kommen die Kinder im Elternhaus zur Welt.
Susann
Das kann schon sein, aber Sie sind nicht in Ihrer Familie. In unserem, äh diesem Haus ist das unmöglich.
Maria
Was stört Sie daran? Oh, bitte, einen Stuhl. Ich möchte mich setzen. Erst einmal sitzen, das reicht mir.
Susann
Werner, das kommt mir alles zu plötzlich. Am Ende kriegen wir hier alle noch ein Kind.
Maria
Es wird Zeit, dass es kommt. Es klopft schon heftig. Die Wehen kommen immer dichter.
Susann
Um Gottes willen, Werner, unternimm was. Ich bin darauf nicht vorbereitet.
Werner
(Hilft Maria beim Platznehmen) Hier, bitte, der Sessel ist bequemer.
Maria
Seien Sie ganz beruhigt. Wir schaffen das. Josef hilft mir dabei. Wir haben das alles viele Male durchgesprochen. Das Haus hier ist ein Geschenk. Es hätte sonst im Zelt zur Welt kommen müssen.
Josef
Ihr habt hier so viele Kerzen aufgestellt. Ist das nicht ein bisschen zuviel?
Werner
Wir wollten uns einen himmlischen Abend zu zweit machen.
Josef
Dann stören wir euch. Wir werden uns unten einen Platz suchen.
Werner
Nein, nein, so war es nicht gemeint.
Josef
Wir wollen euch auf keinen Fall auf die Nerven gehen. Das Haus hat genug Räume. Wir können später alles bereden.
Werner
Meine Frau meint, wir haben eine Menge zu Essen gefunden und waren gerade dabei tüchtig zuzugreifen. Ihr seid selbstverständlich unsere Gäste. Oder die Gäste der Leute, die sich im Warmen herumdrücken.
4. Szene
Josef, Maria, Werner und Susann sitzen am Tisch. Es klopft plötzlich. Alle erstarren.
Josef
Wer kann das sein?
Werner
Keine Ahnung.
Josef
Was machen wir jetzt?
Werner
Ich werde einfach an die Tür gehen.
Josef
Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank.
Werner
Die haben unser Licht sowieso gesehen. Also tun wir so, als seien wir irgendwelche Verwandte. Mir wird schon was einfallen.
Es klopft zum zweiten Mal.
Polizeimeister
Hallo, hier ist Polizeimeister Schäfer, bitte öffnen Sie.
Josef
Die Bullen, ich habe es geahnt. Es ist aus. Die haben unser Licht gesehen.
Werner
Warte und sei still. Ich gehe runter und rede mit ihnen. Aber halte dich raus, klar.
Josef
Ich komme mit.
Werner
Was soll ich mit dir? Wenn man dich ansieht, weiß man gleich Bescheid. Du bleibst hier! Susann!
Susann
Sie bleiben hier! Denken Sie an ihre Frau.
Maria
Josef…
Polizeimeister
Dr. Sakul, Hallo, bitte öffnen Sie.
Werner
Ich gehe.
5. Szene.
An der Haustür. Werner öffnet die Tür.
Polizeimeister
Polizeirevier West, Polizeimeister Schäfer, Guten Abend. Sind Sie Herr Sakul?
Werner
Bin ich. Guten Abend. Was bringt Sie denn zu Weihnachten vor diese Tür?
Polizeimeister
Sie haben eine kaputte Scheibe.
Werner
Wie meinen? Wessen Scheibe ist kaputt.
Polizeimeister
Ihre.
Werner
Meine?
Polizeimeister
Na dort, an Ihrem Haus, ist ein Fenster eingeschlagen. Außerdem haben wir von Ihrem Objekt einen eigenartigen Anruf erhalten. Dem wollen wir nachgehen.
Werner
Anruf? Was für einen Anruf?
Polizeimeister
Gar nicht so lange her. Kann ich einen Moment rein kommen?
Werner
Wozu?
Polizeimeister
Routine. Außerdem ist es kalt.
Werner
Verzeihung, wenn Ihnen der Flur reicht. Wer hat Weihnachten schon gern die Polizei im Haus.
Polizeimeister
Dann erklären Sie mir mal den Anruf.
Werner
Ein Irrtum. Sicher habe ich mich verwählt.
Polizeimeister
Dann sollten Sie das nächste Mal genauer hinsehen, wenn Sie Ihre Tasten drücken. Wir werden an anderer Stelle gewiß nötiger gebraucht. Was ist mit der kaputten Scheibe? Der pure Zufall, oder was?
Werner
Die habe ich mit dem Weihnachtsbaum eingedrückt. Aber man bekommt am Weihnachtsabend schließlich keine Handwerker.
Polizeimeister
Na gut, dann zeigen Sie mir wenigstens Ihren Ausweis.
Werner
Ist das denn nötig?
Polizeimeister
Reine Routine. Also!
Werner
(holt Ausweis heraus, zeigt ihn) Hier, bitte.
Polizeimeister
Danke. Tja, dann gehen wir wohl wieder.
Werner
Moment, warten Sie. Können Sie über Funk eines Einsatzhebamme anfordern?
Polizeimeister
Was für ein Ding?
Werner
Eine Einsatzhebamme oder so. Josef und Maria bekommen heute Nacht ihr Baby. Wir brauchen dringend eine Hebamme. Dringend.
Polizeimeister
Herr Dr. Sakul, Ihnen fehlt wirklich nichts?
Werner
Rufen Sie bitte eine Einsatzhebamme. Maria will nicht ins Krankenhaus. Sie sagt, sie würden das immer allein machen. Aber so ein Kind kann doch nicht im Zelt aufwachsen.
Polizeimeister
(holt Alkoholröhrchen hervor) Pusten Sie mal bitte hier in dieses Röhrchen.
Werner
Da, bitte. Ich bin nicht betrunken. Wir brauchen sofort für Josef und Maria eine Hebamme.
Polizeimeister
Herr Dr. Sakul, es ist Weihnachten, ich kenne die Geschichte auch, um die es geht. Das mag auch alles ganz rührend sein. Aber ich bin im Dienst und habe keine Zeit, mir ihre Albernheiten anzuhören.
Werner
Unser Telefon ist gestört. Rufen Sie sofort eine Hebamme oder ich melde mich in ihrer Dienststelle und zeige Sie wegen unterlassener Hilfeleistung an.
Polizeimeister
Jetzt reicht es. Lassen Sie mich zu den Leuten?
Werner
Sie müssen mir einfach glauben. Ich bin Arzt. Ich kann ganz gut einschätzen, was sinnvoll ist. Die Mutter ist aufgeregt genug. Es würde sehr viel Unruhe stiften wenn die Polizei plötzlich in der Stube steht. Sie verstehen?
Polizeimeister
Also, gut. Wenn Sie das so sagen, will ich mal anfragen. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass blinder Alarm zu Ihren Lasten geht. Das wird teuer.
Werner
Rufen Sie schon
Polizeimeister
Hier 28. Zentrale, hört ihr mich.
Stimme
Zentrale hört 28. Was gibt es?
Polizeimeister
28 an Zentrale, treibt eine Hebamme auf und bringt sie sofort in die Mehelhteb Str. 1.
Stimme
Zentrale an 28. Können Sie das mit der Hebamme wiederholen.
Polizeimeister
28 wiederholt an Zentrale. Brauchen hier dringend eine Hebamme. MeheIhteb Str. 1 bei Dr. Sakul.
Werner
Sagen Sie ihnen, dass die Geburt unmittelbar bevor
Polizeimeister
28 an Zentrale. Geburt eilt.
Stimme
Zentrale an 28. Habe verstanden. Ruf wird weitergeleitet.
Polizeimeister
28 an Zentrale. Ruf Ende.
Stimme
Zentrale an 28, verbleiben Sie vor Ort.
Werner
Nicht nötig.
Polizeimeister
28 an Zentrale. Arzt meint, das sei unnötig. Setzen Streife fort.
Stimme
Zentrale an 28. In Ordnung. Ende.
Werner
Danke. Wollen wir mal sehen, wie lange die Hebamme braucht,
Polizeimeister
Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?
Werner
Nein, danke. Und verzeihen Sie mir bitte meine Aufregung.
Polizeimeister
Keine Ursache, sind wir gewöhnt. Guten Abend, Herr Doktor.
Werner
Frohe Weihnachten. (Polizeimeister ab. Werner geht zu den anderen zurück)
6. Szene
Susann
(Werner kommt zu Susann, Josef und Maria zurück, die am Tisch sitzen) Und, was war?
Werner
Der schickt eine Hebamme. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Josef, es ist alles in Ordnung.
Josef
(erregt, steht auf) Wie kann alles in Ordnung sein? Die Polizei steht vor dem Haus und du erzählst denen irgendwas. Und die gehen wieder. Wie geht das?
Werner
Es geht eben. Und damit Schluß. Jetzt wollen wir was essen.
Josef
Ich traue dir nicht.
Werner
Dann hast du Pech. Ist die Polizei hier? Hat sie dich verhaftet? Du kannst denen gern hinterher laufen und ihnen sagen, dass sie dich mitnehmen sollen. Oder du feierst mit uns ein bisschen Weihnachten, bevor dein Kind zur Weit kommt.
Susann
Werner hat recht, wir wollen was essen.
Maria
Josef, setz dich. (Josef setzt sich) Sie meinen es gut mit uns.
Susann
(zu Josef und Maria) Langen Sie zu.
Maria
Nur ein wenig. Ich habe Hunger bekommen.
Susann
Grog? Ach so, Verzeihung, dann lieber Tee. Ich koche gleich welchen.
Josef
Donnerwetter, ihr seid mutig. Macht eine richtige Festtafel im fremden Haus. Mir könnte fast unheimlich dabei werden. Tschuldigung wegen…
Werner
Schon gut. Greift einfach zu. (alle essen miteinander)
Lied: O Bethlehem, du kleine Stadt EG 55,2
7. Szene
(Susann und Werner sitzen am Tisch, Maria liegt im Hintergrund mit Kind im Bett. Josef sitzt daneben)
Susann
Du bist verrückt.
Werner
Es ist verrückt.
Susann
Wir sind verrückt.
Werner
Das glaubt uns kein Mensch.
Susann
Das glaubt uns wirklich kein Mensch.
Werner
Ich glaube es selber kaum,
Susann
Die Frau eines Einbrechers bekommt in unserem Haus ein Kind. Es ist keine Stunde her. Sie schläft mit ihrem Baby in meinem Bett.
Werner
Welchen Tag haben wir heute?
Susann
Was fragst du?
Werner
Ich habe es vergessen.
Susann
Weihnachten? Heilig Abend? Fest des Friedens und der Freude? Oder ein Tag wie jeder andere? Such dir was aus.
Werner
In deinem Bett schläft eine fremde Frau mit ihrem Säugling. Das Baby kam am Tag der alten Geschichte zur Weit.
Susann
Mein Bett ist auch dein Bett.
Werner
Warum ruft hier niemand die Polizei?
Susann
Die war schon da.
Werner
Ein zweites Mal?
Susann
Der Strom ist abgestellt.
Werner
Das Telefon funktioniert davon unabhängig.
Susann
Er hat den Stecker herausgezogen.
Werner
Ein kluger Kopf.
Susann
Er hat im Film gesehen, dass man es so macht. Das glaubt uns wirklich kein Mensch.
Werner
Und wir?
Susann
Und wir haben bekommen, was wir wollten. Den ganz besonderen Abend. Moment kannst du alles noch ändern.
Werner
Ich liebe dich.
Susann
Ich dich auch.
Werner
Und wenn sie aufwachen?
Susann
Das Kind wird bald Hunger bekommen und schreien. Dann wachen sie auf.
Werner
Dann erzählen wir ihnen einen Traum.
Susann
Lieber die Wahrheit.
Werner
Noch nicht, Der Spaß will ein Stück weitergehen.
Susann
Wie meinst du das?
Werner
In der alten Geschichte steht: „und sie fanden keinen Platz in der Herberge.“
Susann
Ich habe immer gedacht, du kennst die alte Geschichte nicht gar nicht. Und wie weiter?
Werner
Alte Geschichten sind das. Kann man keine neuen schreiben? Darf man so eine Geschichte umschreiben?
Susann
Du meinst wegen der Herberge?
Werner
Ja, wegen der Herberge. Schreiben wir also: „Und sie fanden Platz in einer Herberge.“ Das nimmt der Geschichte etwas vom Elend.
Susann
Hat er nicht erzählt, daß er ihr kein Obdachlosenheim zumuten wollte. Also schreiben wir: „Und sie fanden eine Herberge.“
Werner
Wie stellst du dir das vor?
Susann
Das müsstest du besser wissen als ich.
Werner
Würde dir das gefallen? Vor ein paar Stunden wolltest du die Leute nicht hier haben. Wir kennen sie kaum. Im Moment kannst die ganze Geschichte ändern. Anruf genügt. Und schon sind sie weg. Alles wird sein wie vorgestern.
Susann
Das Telefon ist abgestellt.
Werner
Ich habe den Stecker wieder in die Dose gesteckt.
Susann
Jetzt wo ich weiß, dass sie im Zelt gewohnt haben. Was soll aus dem Kind werden? Die Kälte würde das Kleine umbringen. Es braucht Wärme, viel Wärme.
Werner
Mutter und Kind finden schnell einen freundlichen Platz. Sie beschützt das Kind. Das Kind beschützt sie.
Susann
Und Josef? Hat er uns was getan?
Werner
Er hat die Scheibe zerschlagen, ein paar Mark und Briefmarken genommen.
Susann
Er hat sie redlich mit dir geteilt. Er will zum Glaser gehen und die Scheibe neu einsetzen. Da bleibt ihm viel von dem Geld. Also: Freispruch.
Werner
Kein Anruf?
Susann
Wenn wir anrufen, dann hat es diesen Abend nie gegeben.
Werner
Was gebrochenes Glas alles bewirken kann.
Susann
Ja, was gebrochenes Glas alles bewirken kann.
Werner
Bleibt also die neue Geschichte.
Susann
Schreiben wir die Geschichte so: „Und sie fanden eine neue Herberge.“ Einverstanden?
Werner
Einverstanden. Ich werde telefonieren müssen.
Susann
Mit wem?
Werner
Mit dem Postboten.
Lied: O Bethlehem, du kleine Stadt EG 55,2
8. Szene
Josef
Wir werden gehen, bevor die Leute zurück kommen. Sie werden merken, dass wir hier waren. Aber es wird ihnen nur wenig fehlen.
Susann
Da bin ich mir nicht so sicher, dass ihnen wenig fehlen wird.
Josef
Wenn du meinst.
Susann
Ich wollte dich nicht beleidigen.
Josef
Schon gut.
Susann
Wohin wollt ihr gehen?
Josef
Zurück.
Susann
Das Kind wird erfrieren.
Josef
Ob es an der Winterkälte oder an der Kälte ringsum erfriert, wen kümmert es?
Susann
Rede so nie vor Maria!
Josef
Ich gehe die Scheibe einsetzen.
9. Szene
(Josef repariert die Scheibe. Dabei fängt ihn der Postbote ab.)
Postbote
Tagchen. König, mein Name.
Josef
Tag.
Postbote
Suche einen Herrn Gilieh.
Josef
Gilieh, wieso?
Postbote
Sind Sie das?
Josef
Vielleicht?
Postbote
Na, sind Sie es oder sind Sie es nicht?
Josef
Wozu?
Postbote
Weil ich hier einen Brief für den Herrn habe. Bin der Postbote.
Josef
Für mich?
Postbote
Für Herrn Glilieh bei Sakul.
Josef
Von wem ist der Brief?
Postbote
Postgeheimnis. Ich werde jetzt mal klingeln. Mit ihnen komme ich wohl keinen Schritt weiter. (wendet sich zur Klingel)
Josef
Moment, Herr König. Ich bin Herr Gilieh.
Postbote
Dann sagen Sie das doch gleich.
Josef
Darf ich den Brief mal anfassen.
Postbote
Erst unterschreiben.
Josef
Aber…
Postbote
Dann nehme ich den Brief eben wieder mit, wenn hier keiner unterschreiben will.
Josef
Ich habe keinen Stift.
Postbote
Aber ich. Hier. (Josef unterschreibt). Danke. Und Tschüs!
Josef
Was ist das? Ein Mietvertrag. Ein Mietvertrag, ausgestellt auf den Namen Josef und Maria Gilieh, und ein kurzer Brief.
Liebe Maria und lieber Josef, Weihnachten ist zum Wundern. Euer Kind hat uns berührt und verwundert. Das kleine Wesen strahlt mehr Wärme aus, cis jeder kerzenbestückte Baum es kann. Aber es braucht einen Raum, einen warmen Raum, ein warmes Bett. Eure warmen Hände und Eure warme Sorge. Damit kann es uns allen das geben, was es gibt. Im Zelt wird das nichts. Darum die drei kleinen Zimmer. Die Wohnung soll Euch gehören. Nehmt die ersten Monate als Geschenk. Und Josef, zögere nicht. Bringe Maria und das Kind vor der Kälte in Sicherheit. Zwei Freunde.